Regelmässig taucht die Frage des angemessenen Duzen oder Siezen im geschäftlichen und privaten Kontext auf.
Ist es unverschämt, einen Kunden direkt zu duzen? Ist es entgrenzt, seine Mitarbeiter zu duzen und sich von ihnen duzen zu lassen.
Sind die Duz-Freunde meiner Duz-Freunde auch meine Duz-Freunde?
Je nach Sprachregion unterscheiden sich die üblichen Umgangsregeln. Das ist bekannt etwa aus dem Englischen.
Auch in anderen Sprachen gibt es Mischformen, die eine Aussage über innerbetriebliche Stellung, allgemein gesellschaftliche Stellung des Senders und des Adressaten, über deren Umfeld, Berufsimage, Gruppenzugehörigkeit oder viele andere denkbare Eigenschaften zeigen.
Sehr häufig ist bis heute die Anrede Sie + Vorname. Denn der Nachname war und ist bis heute oft verwechselbar und nicht individuell valabel: Schumacher, Müller oder etwa in Nordindien Singh etc.
Diese Respektform existierte innerhalb von Familien (nicht nur in Adel und Unternehmeraristokratie) und gegenüber Dritten.
Eine interessante Mischung ergab sich in der Schweiz Mitte des 20. Jahrhunderts in einigen Dialekten: Aus dem eigentlichen Du-Gruss, allerdings schon in den 60er-/70er-Jahren sehr altbackenen «Grüess Di» wurde das zeitübliche «Grüezi» lautlich fusioniert, was seinerseits allerdings ein eindeutiger Sie-Gruss ist. So wurde dann aus dem «Grüess Di Nils» der Tante ein gehörtes «Grüezi Nils», kognitiv zwar aufgelöst, aber intuitiv mit einer eigentümlichen Sie-Komponente angereichert.
Herr oder Frau + Nachname dagegen wurde ursprünglich eher gegenüber der Herrschaft gebraucht.
Um grobe Fettnäpfchen zu vermeiden, hilft heutzutage das allgemeine Siezen ungeachtet der gesellschaftlichen oder hierarchischen Stellung. Ein Du zu viel kann arg peinlich werden, ein sicherheitshalber gesagtes Sie zu viel bestenfalls amüsant.
Es funktioniert auch ziemlich gut ausserhalb geschlossener Dorfgemeinschaften, in denen noch vor 50 bis 100 Jahren oft nur 3-4 Familiennamen vorkamen und damit eine Unklarheit verbunden gewesen wäre.
Insofern ist das allgemeine Siezen eine Errungenschaft der moderneren städtischen Bürgerwelt.
Schwierig kann es werden, wenn in Siez-Umgebungen, etwa in einem Betrieb, sich Grüppchen bilden, die miteinander per Du sind, gleichzeitig aber andere in der gleichen Funktionsstufe diese siezen müssen.
Diese Situation ist sehr oft in Lehrerkollegien zu finden, wenn diese nicht das grundsätzliche Du beschlossen haben. Es entstehen Du-Grüppchen, die auch als Zugehörigkeits- und Sympathieetiketten funktionieren. Mit entsprechend ausschliessender Wirkung auf der anderen Seite – bis hin zum Mobbing.
Unterhaltsam wird es dann, wenn ein relativ neues oder gar junges Kollegiumsmitglied von einer altgedienten Lehrperson, ihrerseits nur mit wenigen Kollegen per Du, aufgrund gemeinsamer fachlicher Zusammenarbeit mit dem Du richtiggehend geadelt wird – und die Kollegiumsmehrheit dadurch sichtbar «rechts überholt» wird. So gesehen in einem Lehrerkollegium, in dem die Du-Quote schon fast zu einem stillschweigenden aber «amtlichen» Ranking wurde.
Gegen solche Grüppchen-Mobberei in Form von Du-Etikettierung kann ein einheitliches Du erfahrungsgemäss helfen. Dieses Modell des allseitigen Du (inklusive aller Hierarchiestufen) haben – um einen passenden Vergleich zu nennen - in Deutschland die Gesamtschulen als Grundsatz bestimmt.
Im amtlichen Bereich sowie mit Titeln bewegt sich die Thematik weit über das Sie/Du hinaus. So wirkt das in Deutschland übliche notorische Aufzählen akademischer Titel wie Professor Doktor Soundso in Gesprächen als lächerlich etwa auf Schweizer oder Kanadier, weil damit eine fachliche Kompetenz und Relevanz etikettiert wird, die «der Schweizer» oder «der Kanadier» an und für sich lieber inhaltlich wünscht.
Andererseits erlebt «der Deutsche» dasselbe, wenn Österreicher ihre Titel wie Herr Geheimrat, Frau Oberamtsrätin und dergleichen zu Markte tragen.
Die andere Seite kann man erleben etwa im Umgang mit Polizisten in Schweden oder auch in der italienischen Schweiz.
In beiden Ländern ist das Geduztwerden durch einen Polizisten je nach Situation durchaus nicht ein Zeichen der Respektlosigkeit, sondern genau anders herum eine Aussage, dass für den Polizisten bzw. die Polizistin kein Anlass zu besonderer Distanzierung besteht. Insofern klares Güteprädikat.
Das Gegenteil ist der von Nichtkundigen etwa empfundene Eindruck, veräppelt zu werden durch Ansprache mit Übertreibungen:
Während in Deutschland ein Mann von 60 durchaus noch als «Junger Mann» angesprochen wird, bedienen sich Italiener gerne eines «Dottore» für alles, das nach einer halbwegs höheren Bildung aussieht; Ingegnere und Avvocato sind dann für höheren Status vorgesehen, wobei niemals der Anspruch besteht, dass dies jeweils auch fachlich zutreffe. Man greift lieber höher im Titel als zu tief.
Und auch der Dottore oder seine etwas kumpelhafte Abwandlung Dottò sind nicht eineindeutig definiert. So kommt es sehr auf die Umgebung, den Anlass, die Mimik und den Tonfall an, ob der Titel ernsthaft respektvoll oder satirisch oder sogar herablassend adressiert ist.
Eine Frage, die sich im Zusammenhang von Low Context respektive High Context-Kommunikation differenzierter betrachten und verstehen lässt.
Eine auch ganz amüsante Schlangengrube ist das «Ciao» bzw. «Tschau».
Während es sich in weiten Teilen Deutschlands auch in der nicht ganz steifen Sie-Beziehung als angemessen eingebürgert hat, wird es im süddeutschen Sprachraum als eindeutiger Du-Gruss aufgefasst. Mit mitunter entsprechend peinlichen Reaktionen bei «unpassender» Verwendung – beiderseits.
Wir sehen also: Es lauern überall Fettnäpfchen, vielleicht sollten wir zu deren Umgehung am besten unser eigenes Haus nicht verlassen und kein Telefon annehmen.
Ich bevorzuge als praktikable und nachhaltige Lösung – wie für viele andere Stress-Situationen: Zuerst Durchatmen – das versorgt das Gehirn mit Sauerstoff und wir gewinnen Zeit; eine günstige Voraussetzung, um die unmittelbaren spontanen Impulse des Reptiliengehirns und des limbischen Systems durch Bewusstsein und Vernunft moderieren zu können.
Es lohnt sich schlichtweg fast nie, wegen einer nicht als angemessen empfundenen Anrede brüsk zu reagieren. Sie hat so gut wie immer einen Hintergrund soziokultureller und regionaler Gewohnheiten.
In den meisten Fällen dürfte diese als «falsch» empfundene Anrede auszuhalten sein. Liegt erkennbar eine manipulative Verwendung vor (die dann meistens auch mit anderen entsprechenden Verhaltensweisen übereinstimmt), können wir den Ort oder die Person vielleicht zukünftig meiden. Oder es einfach hinnehmen. Wenn ich günstig bei einem bestimmten Möbelhaus einkaufen will oder notgedrungen muss, dürfte die Du-Anrede während des Aufenthalts ein erträglicher Preis sein.
Wenn mich das konsequente Du in einem Restaurant stört, kann ich ja ein anderes Lokal auswählen. Habe ich damit Mühe, dass ich in einem Land geduzt werde – wählen wir in anderes Ferienziel oder migrieren eben.
Wenn es wirklich angezeigt erscheint, etwa in einem Betrieb, empfehle ich, es anzusprechen. Vielleicht in Frageform bei günstiger Gelegenheit, etwa beim Kaffee: «Wie ist es hier eigentlich dazu gekommen?». Und sonst gibt es dafür auch noch Coaches für interkulturelle Kommunikation oder Verhaltenstrainer.
Jedenfalls hilft auch hier: Humor. Den kann man lernen und ihm immer wieder neue Farben verleihen. Er hat viel mit geistiger Beweglichkeit und mit Freiheitgewährung zu tun und ist ein wichtiger Resilienz-Schlüssel. In erster Linie für sich selber.
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