«Ein Nasser Hund ist besser als ein trockener Jude» - Rezension

10. August 2022

Jugend-Biographie von Arye Sharuz Shalicar

Dieser Rezension stelle ich eine Triggerwarnung voran, auch wenn ich solche Warnungen im Allgemeinen nicht schätze: Sie könnte auch Meinungen und Weltsichten von Menschen in Frage stellen, die sich selber gerne für tolerant, kulturoffen und sozialliberal halten.


Wer diese Attribute für sich reklamiert und doch wirklich gedanklich offen ist, möge das Buch lesen, als Lehrer mit seinen Schülern besprechen (und zwar ohne a priori Rücksichtnahme auf deren Herkunftshintergrund!), und die Erkenntnisse als Politiker in seine Erwägungen und Proklamationen einbeziehen, als Sozialarbeiter in seine Kompetenzbotschaften integrieren.


Jüdischer Junge in Berlin-Wedding …

Arye Sharuz Shalicar schildert seine Jugend als iranischstämmiger Junge im Berliner Wedding der 1990er Jahre von seiner Kindheit bis in sein studentisches Erwachsenenalter.


Anfangs ist seine jüdische Abstammung für ihn kein Thema. Schliesslich fällt er durch sein mediterran-dunkles Aussehen in der vorderasiatischen Einwandererumgebung schon rein optisch nicht auf.


Zunehmend treten doch Herausforderungen auf: im Spannungsfeld zwischen ihm, seiner eigenen Selbstfindung und seiner – grossenteils muslimischen – Umgebung. Etwa infolge eines Schlüsselerlebnisses in der U-Bahn: der Reaktion mitfahrender Araber auf seinen Davidstern-Anhänger.


Auch bei seiner Identitätsfindung vor dem familienbiographischen Hintergrund und schliesslich im Zusammenhang mit seinem jüdischen Umfeld, zuerst in Berlin, später auch in seiner neuen Wahlheimat Israel.


Aryes Erlebniswelten bewegen sich von Basketballspiel über Graffitisprayen, Gang-Rangeleien, Rangkämpfe im Kiez mit und ohne Messer, Polizeigewahrsam bis hin zu seiner Jugendfreundin Janica, die ihm wie die Muse Niklas in Hoffmanns Erzählungen in jeder Lebenslage mit inniger Treue beisteht und ihn mental führt. Derweil Arye wie Hoffmann von ihr empfängt, es auch weiss – sie aber schliesslich … lesen Sie es selbst.


Verständliche Sprache – doch als Leser da und dort etwas sprachlos

Sprachlich bietet diese Autobiographie von Arye Sharuz Shalicar ein rundes Leseerlebnis: verständliche Sprache, die sowohl den Einstiegsleser wie etwa Schüler, nicht Deutschmuttersprachler genau so wie anspruchsvolle Leser zu überzeugen vermag. Das unterstützt Shalicar mit einheitlichem Sprachstil und guter Harmonie aus anekdotischen Elementen in Verbindung mit übergreifenden inhaltlichen Bögen.


Von einem Publizisten nicht anders zu erwarten? Mag sein. Und doch: dieses Buch hält es und das spricht für seine Lektüre!


Irritierend für «den deutschen Leser an und für sich» dürfte ein Aspekt sein, der historisch in Deutschland wichtig und naheliegend, in der öffentlichen Diskussion nach meiner langjährigen Erfahrung aber unzureichend behandelt wird:

Nicht wenige der von Arye im Buch geschilderten autobiographischen Erlebnisse sind ein Vexierbild verbreiteter kultureller Vorurteile. Und davon würde ich den Autor nicht ganz ausnehmen, insofern Kind seiner Umgebung. Darüber aber später.


Wir müssen uns damit befassen:

Was mich an seinen Schilderungen schockiert – nur leider nicht verwundert – ist die beschriebene Ignoranz oder kulturelle Un-Bildung (ich nehme beides an, in fataler Kombination mit geltender Haltungsdoktrin im deutschen Sozial«liberalismus»!): Wie Lehrer offenbar auf breiter Ebene mit der kulturellen Situation nicht umgehen können.

Dies deckt sich auch mit meinen eigenen Erfahrungen in der Lehrerzeit an verschiedenen Schulen: Offene Diskurse, die in der Tradition einer offenen aufgeklärten Gesellschaft unverzichtbar sind (und übrigens ausgerechnet auch für eine traditionell jüdische Geisteshaltung stehen!) werden nicht selten abgewürgt, stattdessen ein stimmungssklavisches Appeasement gefahren, das unter der Decke eine eitrige Portion ungeklärter Nöte und Aggressionen zurückhält.

Hier bietet dieses Buch eine tolle und dringend benötigte Hilfe zur aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion und Haltungsarbeit.


Und da wird auch die Problematik thematisiert, wie Angehörige bestimmter Volks- oder Glaubensgruppen in bestimmte Erwerbsbereiche richtiggehend hinein marginalisiert werden. In diesem Buch am Beispiel der Juden im Iran oder des jüdischen Jugendlichen in Berlin.


Das zugrunde liegende Phänomen ist universal.


Wenn die Betreffenden dann in einer gefundenen Nische erfolgreich werden, folgt die Dämonisierung. Der Nimbus der Brunnenvergifter und Weltbeherrscher oder aber der diversen Formen von Clanwirtschaften ist unumgänglich – und im Prinzip austauschbar. Und in jedem Fall weder gerecht noch nachhaltig verantwortbar.


Wandel und doch auch ein paar offene Fragen

Ich habe früher auf die kulturellen Vorurteile hingewiesen. Neben denjenigen der Gesamtgesellschaft fasziniert und irritiert mich gleichzeitig der Wandel des Autors Arye Sharuz Shalicar vom unbewussten jugendlichen Ignoranten gegenüber seiner eigenen kulturellen Herkunft hin zu einem überzeugten Zionisten, wie er sich gegen Ende des Buches selber präsentiert.


Einerseits ein Phänomen, das wir grundsätzlich von «Konvertiten» kennen, seien es ehemalige Raucher, religiöse oder politische Konvertiten, Menschen, die aus Überzeugung vom Auto auf den öffentlichen Verkehr umgestiegen sind: Eine hartnäckige und mitunter etwas penetrante Strenge und Intoleranz.


Andererseits eine Haltung, die vor dem Hintergrund permanenter gesellschaftlicher Infragestellung, Isolation und Vertreibung (geographisch oder sozial) verständlich, zumindest aber mit Empathie nachvollziehbar ist. Das gilt für ihn persönlich in seinem eigenen Umfeld in Berlin wie auch für «sein» Volk der Israeliten.


In der Öffentlichkeit kennen wir Arye in der Funktion als Sprecher der IDF (Israelische Verteidigungsarmee), in der er zwar als Sprecher mit Auftrag auftritt, und doch trotz klarer Parteilichkeit keinerlei Fanatismus erkennbar ist, er Situationen sachlich, ruhig und mit mediatorischer Haltung auf Schlichtung bedacht erläutert.


Ein Mensch mit offener Denke, ein Raum mit offenen Türen für die Suche nach gemeinsamen tragfähigen Lösungen. Ein Mensch, Denker und Kommunikator, dem zuzuhören sich lohnt.


Und schon deshalb eine Einladung, uns in Deutschland und der gesamten deutschsprachigen Welt (und darüber hinaus) mit diesem Buch und seinen Themen zu beschäftigen. Innerjüdische Spannungen, Immigranten-Differenzen, gelungenes soziales Miteinander, Werteunterschiede quer durch vermeintlich einheitliche Gesellschaftsgruppen und noch vieles mehr etwas genauer zu betrachten. Farbtonunterschiede und feine Schattierungen wahrnehmen zu lernen.


Ich bin gespannt, was wir von Arye Sharuz Shalicar noch hören und lesen werden … und freue mich darauf!


bibliographische Angaben:

EUR 10,90 [DE] – EUR 11,30 [AT]

ISBN: 978-3-423-34980-2

Erscheinungsdatum: 18.06.2021
1. Auflage

248 Seiten

Sprache: Deutsch


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