wie das Wort Resilienz hören wir zeitweise ständig und überall. Im Lauf der Corona-Pandemie dürfte er inzwischen jedem Kind schon vertraut sein. Doch viele Menschen dürften sich darunter wenig Genaues vorstellen können – dabei ist Resilienz keine Neuerfindung und für uns alle lebenswichtig.
Resilienz ist psychische Widerstandskraft; Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen.
Alles klar! Oder etwa doch nicht?
Am 28.6. sass ein Grossteil der Schweizer vor dem Bildschirm und schaute sich das EM-Spiel Schweiz – Frankreich aus Bukarest an.
Eigentlich eine klare Ansage: Weltmeister gegen Aussenseiter. Noch Fragen?
Bereits in der 15. Minute schoss Haris Seferović für die Schweizer Mannschaft das erste Goal. Bis zur Pause änderte sich an diesem Stand nichts.
Bereits kurze Zeit nach Beginn der 2. Halbzeit erzielte Frankreich durch Karim Benzema den Ausgleichstreffer und 2 Minuten später fiel gleich noch das Führungstor durch den gleichen Schützen.
Was war passiert? Frankreich geht mit Rückstand in die Pause, sammelt sich und erkämpft sich die Führung zurück. Für eine Weltmeistermannschaft ein zu erwartender Vorgang – vielleicht.
Ganz klar steht aber dahinter: Resilienz!
Nebenbei: Ihre eigene Resilienz war, wenn Sie als Schweiz-Fan in Ihrem Wohnzimmer nun weder wütend mit Pantoffeln oder Chips um sich geworfen noch sonst Schaden angerichtet haben.
Als 1. Säule hatte die französische Mannschaft einfach zu akzeptieren, dass sie nicht die Führung hatten – und das 30‘ lang bis zur Pause. Und jeder einzelne Spieler für sich, womit wir schon bei der 2. Säule sind: der Bindung.
Hier zeigte sich eine „nichtfussballerische“ Spitzenqualität des französischen Teams: ohne verbale Reflexion und Übereinkunft mussten sie den Rückstand aushalten, jeder einzelne für sich allein und alle gemeinsam als Team.
Als 3. Säule wirkte die Lösungsorientierung – auf deren Belohnung sie allerdings bis nach der Pause warten mussten, bis zu jenem Ausgleich in der 57. Minute. Und bis hier trug die 4. Säule, der gesunde Optimismus oder auch bezeichnet als Verlassen der Opferrolle. Dies gab ihnen die Zuversichtsgrundlage, den Ausgleich zu schaffen.
Verantwortung übernehmen
Als 5. Säule wirkte die individuelle Selbstwahrnehmung und darin die Bereitschaft jedes einzelnen, Verantwortung zu übernehmen. Und hier war deutlich sichtbar: Es ging um die Verantwortung für das aktive Handeln, nicht jene der Vermeidung.
Wieviel die 6. Säule, jene der Selbstreflexion, hier im Moment auf dem Spielfeld mitgewirkt hat, dürfte als Frage offen bleiben. Es ist eher anzunehmen, dass diese als Grundlage aus dem langfristigen Mannschaftscoaching so verinnerlicht war, dass sie bei den einzelnen Spielern under gesamten Mannschaft zuverlässig wirkte.
Und schliesslich als 7. Säule buchstäblich im Spiel war die Selbstwirksamkeit bei jedem einzelnen Spieler. Die innere Sicherheit, wirksam nach vorne schauen und am Spielverlauf teilnehmen und ihn wirksam beeinflussen zu können.
Diese 7. Säule ist ein zentrales Element all jener Aktivitäten, die mit nichtgreifbaren Produkten zu tun haben, die naturgemäss nicht exakt festgehalten werden können. Gemachte Fehler können hier ausschliesslich durch zukünftige Verhaltenskorrektur ausgeglichen werden. Dazu gehören etwa auch Musik oder Tanz.
Im Gegensatz etwa zum Handwerk, der Rechtsprechung oder der bildenden Kunst: Ein technisches oder künstlerisches Werkstück kann meistens durch Wegnahme oder Zutun von Material korrigiert werden, ein Rechtsbeschluss durch eine Revision neu ausgerollt und anders beurteilt werden.
Und genau die oben anhand der französischen Führungsübernahme geschilderten Vorgänge wirkten bei erneutem Vorpreschen der Schweizer Mannschaft durch Goals in der 75., 81. und sage und schreibe 90. und damit letzten Spielminute.
Ein solches Penaltyschiessen, wie wir es am Ende dieses Matches sehen konnten ist nichts anderes, als die bis nahe an den Wahnsinn getriebene Herausforderung der Resilienz jedes einzelnen Spielers und aller Spieler im Team mitsamt ihren Funktionären am Spielfeldrand.
Und im Fall von Kylian Mbappè, der den 5. Schuss der Franzosen verschossen hat (indem er ihn für den Goalie Yann Sommer erreichbar machte), dürfte einige Unterstützung gebraucht haben, um resilient aus seinem „Versagen“ herauszugehen, was so viel bedeutet, dass er nicht später unbewusst an diesem Misserfolg wie an einem unsichtbaren mentalen Stolperfaden hängen bleibt.
Was im Gegensatz zu vielen anderen Fussballspielen so beeindruckend war: Die hohe Spannung und wirksame Resilienz, die bei jedem einzelnen Spieler beider Mannschaften und bei beiden Teams insgesamt sichtbar waren. Und die wir Zuschauer dankbar und begeistert als knisternde Spannung erleben durften.
Resilienz war dann auch von jener Gruppe von Fussballfans gefordert, die plötzlich in Bukarest feststellten, dass sie nicht am eigentlichen Ziel ihres EM-Ausfluges waren: sie wollten nach Budapest. Statt der oben geschilderten 7 Säulen zur psychischen Resilienz hätte hier der simple vorbeugende Griff zu einem Atlas oder das Aufrufen von Google Maps geführt.
Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft insgesamt etwas resilienter wären. Und da kann Humor helfen. Humor als Instrument, die Sache von verschiedenen Seiten zu betrachten: eine Viel-Sicht.
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