In den letzten Tagen ist immer häufiger die Frage aufgetaucht, ob es angemessen sei zu reisen, während in der Ukraine ein Krieg tobt.
Aus verschiedenen Gründen wurde von Reisebuchungen und Ferienreisen abgesehen. Begründung war wiederholt, dass das Geld (Hand aufs Herz: mutmasslich ein Teil des Geldes) lieber gespendet werde.
Ohne Zweifel ein ehrenwertes Argument gegen das derzeitige Reisen.
Was aber dringender Betrachtung bedarf:
Ist es vertretbar, dass in „sozialen“ Medien mitunter harte Diskussionen ausgefochten werden (mitsamt Beleidigungen, Entfreundungen und dem übrigen Repertoire eskalierender und bereits eskalierter „Unterhaltungen“) über die Frage, ob man als Europäer derzeit überhaupt (noch) reisen dürfe.
Ein zentraler Verhaltenseinfluss, der auf uns wirkt, ist die eigene Distanz zu einem Vorkommnis, in diesem Fall eben dem Ukrainekrieg.
Da ist einerseits die räumliche Distanz: in West-, Mittel- und Mittelosteuropa hatten wir seit dem 2. Weltkrieg keine solchen Auseinandersetzungen mehr.
Zum Vergleich: vom westukrainischen Lviv (Lemberg) ins polnische Krakau sind es etwas mehr als 300 km, etwas näher als Wiesbaden – Brüssel oder ziemlich genau die Distanz von Ingolstadt nach Frankfurt/Main oder von Lausanne nach St. Gallen.
Von Kiev nach Berlin sind es etwas mehr als 1300 km, vergleichbar mit der Distanz von Berlin nach Siena.
Diese räumliche Nähe also empfinden wir als unmittelbare Betroffenheit und somit auch verstärkt persönliche Verantwortung.
Andererseits ist es auch die kulturelle Distanz, zu der die politische Dimension mit gehört. Und in dieser Hinsicht ist die Entwicklungsdynamik der Ukraine in den letzten etwa 10 Jahren nicht zu unterschätzen. Eine Dynamik, die ganz von der Bevölkerung im Majdan eingefordert und seither getragen wurde.
Hinzu kommt eine Verhaltensweise, bei der das intuitiv Tierische bei uns Menschen mit wirkt: Ob es nun politisch korrekt sei oder nicht, bevorzugen unsere ureigenen Hirnfunktionen Artgenossen, die uns möglichst ähnlich erscheinen; in Aussehen, Bewegung, Sprache und Verhalten.
Diese mächtigen Entscheidungshierarchien im Gehirn sind viel älter und durchsetzungsstärker als die ziemlich jungen moralischen Entscheidungsinstanzen etwa im Frontallappen (direkt hinter der Stirn) unseres Gehirns. Das ist nicht gerecht, aber gerade in Krisen ein Fakt.
Seien wir ehrlich: Wer hätte schon den Bürgerkrieg in Myanmar als Argument verwendet, nicht in die Ferien zu fliegen nach beispielsweise Marokko? Oder war der Krieg in Syrien in den letzten Jahren wirklich für eine relevante Anzahl Menschen ein Grund, etwa nicht nach Sansibar, San Francisco oder Stockholm zu reisen?
Eine Annäherung in der Entscheidungsfindung ist ein kognitiver Prozess, also eine Erörterung auf Bewusstseinsebene.
Wenn wir das für uns selber tun, ist das eine Selbstmediation, eine Mediation, die wir mit unseren ambivalenten Gefühlen und Gedanken vornehmen und idealerweise eine gewisse gedankliche und gefühlsmässige Ausgeglichenheit schaffen können.
Notabene ein Vorgang, den wir im Leben oft, wenn nicht sogar täglich vollziehen. Vorausgesetzt, jemand unterliegt in seinen Verhaltensweisen und Entscheidungen nicht weitgehend äusseren Zwängen und verinnerlichten unreflektierten Routinen.
Insofern ist auch das schlechte Gewissen eine Instanz, die durch unsere Wahrnehmungen oder Entscheidungen mehr oder weniger beeinflusst wird, respektive mit dem wir mehr oder weniger gut zurechtkommen. Die mentale Resilienz erlaubt uns im Idealfall, trotz gewisser Hemmungen eine Reiseentscheidung zu treffen und das schlechte Gewissen beiseite zu legen. Oder uns klar gegen eine Reise zu entscheiden.
Beide Entscheidungen sind idealerweise bewusste Abwägungsresultate, hinter denen persönliche Werte stehen. Bewusst heisst hier nicht „im Kopf“ statt „nach Gefühl“, sondern „wahrgenommen und willentlich entschieden“ anstelle nichtreflektierter Gewohnheiten.
Wenn wir leistungsfähig sein und bleiben wollen, müssen wir uns erholen. Reisen ist eine Möglichkeit dazu, egal, ob das sportliche Aktivferien, gemütliche Strandferien mit einem Buch in der Hand oder Kulturferien sind. Die Form der Ferien, die uns gefühlt gut tut, ist von den persönlichen Bedürfnissen und Werten abhängig. Ob es eher in die Kühle oder in die Wärme, ans Wasser oder in die Berge, auf den nahegelegenen Campingplatz oder auf eine weiter entfernte Destination gehen soll ebenso.
Und somit ist das Reisen für unsere eigene Resilienz durchaus von Belang: Wir stellen unsere energetische Ausgeglichenheit wieder her, oder erhalten sie aufrecht.
Die Leistungsfähigkeit ermöglicht uns mittel- und langfristig, dass wir am Wirtschafts- und Sozialleben in unserem Wirkungskreis aktiv und tragend teilnehmen können.
Kurz: Arbeiten, Geld verdienen und Steuern zahlen. Und letztere sind etwa in Deutschland bekanntermassen nicht gering. Die Einkommenssteuern sind dabei sogar nur ein relativ überschaubarer Anteil.
Aus diesen Steuereinnahmen – egal ob aus unserem Arbeitseinkommen oder in Form von Gewinn- und Gewerbesteuern unserer Arbeitgeber – werden wiederum auch verschiedenste Hilfsmassnahmen (mit)finanziert, die im aktuellen Fall die Ukraine und ihre Bürger und Bewohner unterstützen sollen.
Wenn wir jedoch selber nicht unsere Resilienz begünstigen, können wir dieses System auch nicht nachhaltig mittragen.
Ob wir uns also aktuell für oder gegen Ferienreisen entscheiden, ist als Frage gar nicht so einfach zu beantworten. Das muss und darf jeder für sich entscheiden.
Und es wäre durchaus im Sinn von gelebter Diversity, diese individuell verschiedenen Entscheidungen zuzulassen und gegenseitig zu respektieren.
Gerade dies findet jedoch nicht immer statt. Vielmehr schaukeln sich Menschen mit Meinungsunterschieden in dieser Sache in durchaus unangenehme Debatten hoch, die immer wieder in Beleidigungen, Entfreundungen (in „sozialen“ Medien oder auch der nichtelektronischen Welt) kulminieren.
Und es gibt Menschen, die ausdrücklich aufs Reisen verzichten zu Gunsten von Kriegsflüchtlingen, andererseits in krassen Äusserungen und Beschimpfungen den Reisenden nicht nachstehen; die soziale Ader erweist sich dann offenbar als doch nicht so elastisch. Die Frage drängt sich dann auf: Welche Teile der Kinderstube haben diese nicht mitbekommen?
Einerseits wollen sie Gutes tun zu Gunsten von Opfern eines Krieges, den sie klar ablehnen. Andererseits zetteln sie selber auf anderer Ebene genau einen solchen Debattenkrieg mit an.
Wie absurd!
Spätestens an diesem Punkt ist ein Blick auf Haltung und Verhalten nötig. Eine innere Selbstmediation, um sich klar zu machen, dass eine freie und wirklich vielfältige (diverse) Gesellschaft eben auch in den unterschiedlichsten Meinungen, Haltungen und Verhaltensentscheidungen besteht.
Solche Vielfalt ist nicht immer leicht zu ertragen. Sie bedeutet Arbeit.
Und diese Arbeit ist ein Vorgang integrierter Mediation®, die bei sich selber anfängt und in den Wechselwirkungen der Verwandtschaft, von Nachbarn und am Arbeitsort noch lange nicht aufhört.
Und damit stellt sich die Frage:
Will ich Frieden?
Wenn das (hoffentlich) ein JA ist, dann muss diese Willensentscheidung auch beim eigenen Handeln anfangen. Und sei es nur darin, eine vielleicht etwas voreilig geäusserte Aussage oder Entgegnung noch einmal zu überdenken und nachträglich zu löschen, zu korrigieren oder vielleicht differenzierend zu erläutern.
Auch das ist ein aktiver Beitrag zum Frieden. Und diese Stimmung selbst-aufmerksam zu schaffen und zu pflegen halte ich derzeit für einen wichtigen Hilfsbeitrag an die Flüchtlinge, die zu uns kommen werden.
Ein Beitrag, den (Ferien)Reisende genau so gut leisten können wie Menschen, die sich aus genannten Gründen aktuell gegen das Reisen entscheiden.
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