„Ein Zitat aus dieser Zeitung geht gar nicht!“ – Und ob das geht …

17. Juli 2021
Der Anlass ...

Ich habe vor einigen Tagen einen Social-Media-Kommentar zu einem Zeitungsartikel über die angekündigten EU-Massnahmen zur Klimaverbesserung geschrieben. Konkret ging es um das angekündigte Verbot von Verbrennerfahrzeugen und damit verbunden die Ächtung der vorhandenen sowie logischerweise der Reduktion der Versorgung verbliebener Verbrennungsfahrzeuge.

Ich kritisierte in meinem Kommentar den Irrglauben, die Entsorgung (noch) funktionierender Systeme und der Zwang zu Neukauf sei als Nachhaltigkeit zu bewerten. Und dass dieser überstürzte Ersatzwahn durch E-Mobility zudem weiterhin eine zur Nachhaltigkeit nötige Abkehr von der Politik der quantitativen Wachstumsdoktrin ausblende.

Postwendend erfolgten etliche positive Reaktionen, überwiegend von ökologisch orientierten und nachhaltig lebenden Bekannten.

Was mir allerdings etwas aufstiess: Ein Kommentator kritisierte: wohl stimmten meine Argumente, doch einen Artikel der NZZ zu zitieren, sei ein No Go.


Das gibt zu denken – und mir Anlass für diesen Blogartikel.

In Kenntnis der Situation in Deutschland und der Schweiz sind deutliche Unterschiede in der politischen Diskussionskultur wahrnehmbar – Gegenstand dieser Zeilen:

Der benannte Kritiker ist Deutscher, wohnt in Deutschland, die meisten Liker sind Schweizer, leben in der Schweiz.


Medien-Vielfalt – ich denke ein grundsätzliches Modell(?)

Während wir es in der Schweiz mit dem plebiszitären politischen Entscheidungssystem gewohnt sind, uns mit kontroversen Meinungen und Positionen, mitunter auch aus jeweils eigener Sicht abstrusen Positionen auseinanderzusetzen, ist es durchaus üblich, sich auch mit Informationen und Medien abzugeben, die einem persönlich nicht unbedingt nahestehen aber zum anerkannten Medienkanon gehören.

Es geht in erster Linie darum, sich selber ein breites Bild zu machen, idealerweise möglichst ungefiltert. Auf jeden Fall aber plural, divers, vielseitig.

Zu einem vielseitigen Printmedien-Portfolio gehört die NZZ - auch für mich seit Schulzeit - neben Tagesanzeiger, Blick sowie gerne WOZ und Weltwoche. Weitere ad libitum. Höchst unterschiedliche Profile also.

Als Auslandschweizer in Deutschland spannt sich mein Printlektüre-Portfolio entsprechend von der taz über eine Jüdische Allgemeine, FAZ oder SZ, Regionalformate bis zu einer Jungen Freiheit. Und auch Gewerkschaftszeitungen sind immer wieder gerne mit dabei.


Haltungsscheuklappen vor Informationsvielfalt? Echt jetzt?

In Deutschland ist die NZZ in linksliberalen Kreisen verschrien. Wie weit das der Tatsache geschuldet ist, dass diese Zeitung von Politikkritikern eher des rechten Spektrums auch als „Westfernsehen“ benannt wird, kann ich nicht beurteilen, vermute aber, dass es auch in der politischen Divergenz dieser beiden Haltungen liegt.

Ganz klar unbeliebt gemacht hat sich die NZZ bei vielen von Deutschlands Sozialliberalen damit, dass es das erste überregionale Blatt in der deutschsprachigen Printlandschaft war, das im Herbst 2015 wagte, kritische Blicke auf die Flüchtlingspolitik der deutschen Regierung zu werfen und entsprechende Fragen offen zu stellen. Und sehr oft, indem es einem bunten Strauss an Personen Platz für Stellungnahmen bot. Ganz im Sinn der Vielfalt.
Erst daraufhin folgten die FAZ, die SZ und andere nach – quasi gezwungenermassen.


Wandel bei Linksliberalen südlich des Rheins

Der andere Faktor dürfte sein, dass sich seit den 80ern in der Schweiz bei den Linkssozialen eine Haltungsänderung bezüglich NZZ vollzogen hat: Damals wurde die NZZ ähnlich behandelt wie der Blick bzw. in Deutschland die Bildzeitung: keiner liest sie vorgeblich, aber alle wissen, was drin steht und können genau begründen, warum sie sie nicht lesen. Seit etlichen Jahren gilt die NZZ als zumindest aus kritischen Gründen lesenswertes Blatt. Informations-liberal insofern.


Deskription und Normierung

Als medial und politisch mündiger Bürger (dass uns das in einer Demokratie zugestanden wir, davon dürfen wir doch ausgehen?) wünsche ich in erster Linie ganz klar eine informative, beschreibende, deskriptive Medienarbeit. Erst im zweiten Schritt ist eine Normierung, eine Bewertung der Fakten hilfreich und überhaupt angezeigt – und zwar ganz klar erkennbar, nach welchen Kriterien diese stattfindet bzw. stattgefunden hat. (In einem Kommentar oder in einer Glosse, als solche erkennbar, ist das selbstverständlich direkt zulässig. Andere Formate.)

Eigentlich Grundsätze professionellen Journalismus‘.


Vorschnelle Informationsnormierung

In deutschen Medien fällt mir oft auf (und nicht nur mir), dass allgemein früh eine Haltung des Verfassers erkennbar ist, auch in Textformaten, die eigentlich reine Information abgeben sollten.

Aus augenscheinlich vorauseilender Korrektheits-Beflissenheit findet bewusst oder unbewusst eine Vorab-Kategorisierung statt „was geht - was geht gar nicht“.

Entsprechend werden Leser langjährig geprägt – und eine Sezession der Leserschaft findet – unweigerlich - statt.

Schade!


Vergleich öffentliches Radio/TV

Auf anderer Ebene fiel mir vor einigen Wochen die Problematik bei Radio und Fernsehen auf:

Hier führten interessanterweise die öffentlich-rechtlichen Nachrichten deutscher staatlicher Sender zum Israel-Gaza-Konflikt im Mai/Juni namentlich bei Linksintellektuellen in meinem Umfeld zu erheblichem Ärger, weil sie je nach persönlichem Hintergrund eine tendenziöse Berichterstattung in die eine oder andere Richtung pro Israel bzw. pro Gaza-Palästinenser beanstandeten. Kaum einer, der die Medien für ausgewogen bewertete.

Einige folgten meinem Hinweis auf die Formate «Echo der Zeit» und «Rendez-vous» der Schweizer Staatsmedien SRF und bestätigten meinen eigenen Eindruck, dass hier die deskriptiven Anteile weit überwiegen oder sogar in Sendebeiträgen mitunter der normative Anteil ganz fehlt und allein dem Hörer überlassen bleibt, in dem (journalistisch sorgfältig ausgewählte) O-Töne aus verschiedenen Richtungen aus der Region mit wenigstmöglich Moderation gegenübergestellt wurden.


Den Leser und Hörer ernstnehmen! – Als Mensch und als Bürger

Eine Umgebung, ein Staat, eine Redaktion darf und soll Zuhörer und Leser ernst nehmen und ihnen eine eigene Urteilsbasis nicht nur bestmöglich schaffen, sondern ihnen diese Fähigkeit auch zutrauen – und zumuten.
Kurz: Leser, Zuhörer und Zuschauer sind für voll und mündig zu nehmen.


Verschiedene politische Erörterungskulturen

Da stellt sich bei allen Veränderungen unserer Zeit, auch und gerade im Medienverhalten, die Frage, wo die Unterschiede sein können im Hintergrund, in der politischen Bildung.

Das vermag ich hier nicht zu beurteilen, über Hypothesen und bestenfalls Thesen komme ich nicht hinaus, Fragen bleiben offen.

Wichtige Fragen – und dringende Fragen, wenn wir etwa die zunehmende Erosion von Stadt-Land oder speziell in Deutschland von links-rechts betrachten.

Wollen wir daran etwas ändern, müssen wir tabulos hinsehen und tabulos über jedes erdenkliche Thema erörtern.
Ohne Vorab-Ausscheidung möglicherweise nicht auf der eigenen Meinungslinie liegender Medien oder politisch aus irgendwelchem Grund nicht opportuner Themen oder Reizwörter.


Ach, noch etwas: Reizwörter, «Code-Wörter»

Hier sage ich aus Sicht eines einigermassen polyglotten und mehrerer deutschsprachiger Dialekte mächtiger und u.a. im Feld interkultureller Kommunikation und entsprechend auch Missverständnisse tätiger Mensch: Was für ein grober Unfug!
Eineindeutige Zuordnung sogenannter Code-Wörter ist ein besonderer Auswuchs der kulturellen Einfalt und mentalen Unbeweglichkeit – zumal, bevor man der Person näher auf den «Meinungs-Zahn» gefühlt hat.


… und was sie mit preussischem Militär zu tun haben:

Eine eineindeutige Begriffszuordnung ist nichts mehr als – eine Ironie sondergleichen – ein Anspruch, der aus militärischer Zweckmotivation heraus jederzeit eine unmissverständliche Kommunikation in der Befehlskette und im Kampfgetümmel sicherstellen soll. Und das war ganz zentrales Motiv der Preussen, die (hoch)deutsche Sprache zu standardisieren.
Insofern ist die konsequente Verwendung von Hochdeutsch und die Nichtbeherrschung eines regionalen Dialektes (soweit er noch existiert) ein Zugeständnis an eine militärisch-preussische Einheitsdenke, möglichst weit entfernt von Diversität, geschweige denn Individualität.


Diversity in die politischen Debatten mitnehmen …

Wenn wir echte Diversity / Vielfalt von der Gesamtgesellschaft beanspruchen, müssen wir sie selber gutheissen und das heisst damit auch selber leben, zumindest aber nicht ablehnen oder verweigern.

Da widerspricht sich dann allerdings eine Klientel oft selber, die sehr gerne die „Marke Diversity“ für sich beansprucht und auf die eigenen Fahnen schreibt.

Argumente werden zum No Go, weil sie unter dem falschen Emblem vorgetragen werden.

Das ist nicht nur auch eine Form gewisser Blindheit, sondern auch nicht nachhaltig im gesellschaftlichen Sinn. Denn verdrängte Themen fliegen der Gesellschaft früher oder später wieder um den Kopf – dann meistens unkontrolliert und mit entsprechenden Vernichtungskräften.

Und deshalb brandgefährlich.


Als Gedankenmodell …

lasse ich somit stehen, dass die Vielfalt der Presselektüre ganz ähnlich der persönlichen sprachlichen Vielfalt und sonstigen gedanklich-kulturellen Beweglichkeit ist respektive sein sollte.

Und es hilft, wenn wir akzeptieren, dass wir möglicherweise trotz allen Bemühens eine unpassende Sichtweise haben – weil die anderen es anders sehen und uns wichtige Informationen fehl(t)en.

Ambiguitätstoleranz ist da gefragt: die Toleranz (uns selbst und auch anderen gegenüber), möglicherweise doch falsch beurteilt zu haben.

Vielleicht hilft es, einer potentiellen Fehlentscheidung auf die Schliche zu kommen, wenn wir einmal eine ganz «unmögliche Zeitung» lesen, einen ganz ungewohnten Blickwinkel einnehmen.

Ein integriert-mediatorischer Ansatz …


Viel Vergnügen dabei, die Welt neu zu betrachten …


PS Humor hilft dabei.

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